Formaldehyd – Wie man aus Moskitos Elefanten brät

Update vom 07. Juli 2015:
In der Zwischenzeit wurde der hier betrachtete „Letter to the Editor“ von mehreren Wissenschaftlern (unter anderen JL Nitzkin, K Farsalinos, M Siegel, RH Thomson, PM Lewis, SK Sodhi und A Khanna) kritisiert und Fragen aufgeworfen.

Auszug aus den veröffentlichten Kritiken:
Zitat: „The data presented by Jensen et al. (Jan. 22 issue)1 in their recent letter to the Editor do not support their conclusion that e-cigarette use presents a likely risk of excessive exposure to formaldehyde.

Originalartikel vom 23. Januar 2015:
Vor kurzem wurde im New England Journal of Medicine ein sogenannter „Letter to the Editor“ (ein mit hohem Stellenwert behafteter wissenschaftlicher Brief an den Herausgeber) veröffentlicht:

In diesem Brief an den Herausgeber beschreiben die Autoren, dass E-Zigaretten bei hohen elektrischen Spannungen „Stoffe, die Formaldehyd freisetzen“ (sog. „Formaldehydabspalter“) abgeben.

Das Protokoll:

  • Die E-Zigaretten wurden, 5 Minuten lang, mehrmals für 3 bis 4 Sekunden aktiviert. Während dieser Zeit wurde wurde das produzierte Aerosol für die spätere Messung aufgefangen.
  • Diese Prozedur wurde einmal mit 3,3 Volt und einmal mit 5,0 Volt durchgeführt.
  • Bei 3,3 Volt konnten keine Formaldehydabspalter gemessen werden.
  • Bei 5,0 Volt konnten 380±90 Mikrogramm Formaldehydabspalter (aber kein Formaldehyd) pro 10 Züge gemessen werden.

Aus diesen gewonnenen Daten extrapolierten und schlussfolgerten die Autoren, dass ein Konsument bei einem durchschnittlichen Verbrauch von 3 ml pro Tag ca. 14,4 Milligramm Formaldehyd aus diesen Formaldehydabspaltern aufnehmen würde. Weiterhin gehen sie davon aus, dass verglichen mit Langzeittabakrauchern, der Langzeitgebrauch von E-Zigaretten ein 5 bis 15 mal höheres Risiko beinhaltet an Krebs zu erkranken.

Zwischen….

In dem Artikel werden „Formaldehydhaltige Halbacetale“ als „Stoffe, die Formaldehyd freisetzen“ /Formaldehydabspalter (formaldehyde-releasing agents) bezeichnet, da das Formaldehyd nicht in reiner Form, sondern als chemische Verbindung mit Glycerin und Propylenglykol vorlag.

Bei Formaldehydabspaltern fällt die Formaldehyd-Freisetzung von Stoff zu Stoff unterschiedlich aus und hängt unter anderem von dem Lösemittel, dem pH-Wert und der Temperatur ab.1 Von diesen Halbacetalen kann später Formaldehyd freigesetzt werden.

Wie viel das sein kann, bleibt leider offen. Die Autoren weisen zwar darauf hin, dass unbekannt ist, welche Auswirkungen diese Formaldehydabspalter auf die Atemwege haben (und es ist auch nicht bewiesen wie viel Formaldehyd diese abgeben und ob diese überhaupt Schädlich sind) aber nichtsdestotrotz machen sie es sich einfach und setzen die geschätzte Gesamtmenge an gefundenen Formaldehydhaltigen Halbacetalen mit der selben Menge an Formaldehyd gleich und berechnen daraus das höhere Krebsrisiko.

…und hinter den Zeilen

Nur bei 5,0 Volt konnte diese chemische Verbindung gefunden werden – Bei 3,3 Volt wurden keine Formaldehydabspalter gefunden. Was kein Wunder ist:

Wie aus einer Email von einem der Autoren hervorgeht, wurden für die Untersuchung CE4-Clearomizer mit 2,1 Ohm Widerstand benutzt.

Bei diesen CE4-Clearomizern liegt die Heizwendel oberhalb des Liquids und diese wird durch den Kapillareffekt mittels einer oder mehrerer Glasfaserstränge mit Liquid versorgt.

Wie Nutzer dieses 2012 auf den Markt gekommenen CE4-Clearomizers wissen, hat dieses Produkt seine Probleme mit dem Liquidnachfluss und der Nutzer muss diesen bei einer höheren Spannungseinstellung (>3,7 Volt) schräg halten, damit das Liquid fast schon unmittelbaren Kontakt zur Heizwendel hat. Ansonsten erfolgt ein Abriss bei der Liquidzufuhr: Die Kapillarwirkung der Glasfaserstränge reicht bei höherer Leistung nicht aus, um das Liquid aus dem Reservoir zur Heizwendel zu transportieren.

In dieser Untersuchung wurde der 2,1 Ohm CE4-Clearomizer mit 5,0 Volt (12 Watt bei 2.1 Ohm) betrieben. Bei dieser Leistung reicht definitiv nicht einmal das schräg halten des Clearomizers aus, um einen Abriss im Liquidnachfluss zu verhindern – Wie man in diesem Video aus 2012 zum CE4+ von Phil Scheck sehen kann.

Wenn kein Liquid mehr nachfließt, wird nicht mehr ausreichend Liquid verdampft, die Heizwendel überhitzt und das restliche Liquid wird quasi verbrannt. Der E-Zigarettenkonsument kennt diesen Effekt als „Dry Hit“. Den Geschmack von so einem „Dry Hit“ empfinden die Konsumenten in der Regel als abschreckend und hören wegen dem beißenden Geschmack unmittelbar damit auf, die E-Zigarette zu benutzen.

Aber nicht nur Konsumenten kennen diesen Effekt: Wissenschaftler, die sich mit Testprotokollen für E-Zigaretten auseinandersetzen, können auf veröffentlichte Arbeiten zurückgreifen. So haben z.B. Farsalinos und Kollegen haben den „Dry Hit“ bzw. „Dry-Puff“ (und die Gründe dafür) bereits 2013 in dem Artikel „Evaluation of Electronic Cigarette Use (Vaping) Topography and Estimation of Liquid Consumption: Implications for Research Protocol Standards Definition and for Public Health Authorities’ Regulation“ unter Punkt 2.2 und 3.4.2 beschrieben.2

Veranschaulichung

Wenn man einen gewürzten Hähnchenschenkel in einen 200° C heißen Backofen legt und nach 60 Minuten aus dem Backofen holt, ist das Ergebnis für einen Nichtvegetarier/Nichtveganer eine leckere Angelegenheit.

Wenn man nun einen gewürzten Hähnchenschenkel in einen 1000° C heißen Backofen legt und nach 12 Minuten aus dem Backofen holt, ist das Ergebnis für Jedermann: Ein dunkles, verbranntes und ungenießbares Stück „Kohle“ (welches allerlei krebserregende Stoffe enthält).

Erkenntnisse

  1. Wird die E-Zigarette bestimmungsgemäß benutzt, entstehen keine Formaldehydabspalter oder Formaldehyd!
  2. Gesetzlich könnte vorgeschrieben werden, dass die Betriebsparameter (Volt/ Watt) für einen Verdampfer auf dem Produkt lesbar angegeben werden (so wie es einige Hersteller schon machen) damit der Konsument weiß, mit welcher Leistung der den Verdampfer gefahrlos betreiben kann. Eine entsprechende Regelung, die z.B. bei Autoreifen seit langem gut funktioniert: Dort sind auch die zulässigen Höchstgeschwindigkeiten auf dem Reifen angegeben.
  3. Da diese Stoffe und Stoffzusammensetzungen gesundheitsgefährdend sein können, sollte bei zukünftigen Untersuchungen nicht nur nach Formaldehyd, sondern auch nach Stoffen, die Formaldehyd freisetzen (also versteckten Formaldehyd) gesucht werden!
  4. Bei der Berichterstattung muss darauf geachtet werden, dass die Ergebnisse nach „bestimmungsgemäß“ und „außerhalb der Norm“ getrennt und entsprechend bewertet werden!

Fazit

Hier wurde (wieder einmal) eine E-Zigarette völlig außerhalb der Spezifikationen betrieben, daraus negative Ergebnisse hergeleitet und Negativpressemitteilungen generiert.

Die Schlussfolgerung der Autoren, dass bei E-Zigaretten das Krebsrisiko gegenüber Tabakzigaretten bis zu 15 mal erhöht sei, ist nicht nur falsch weil sie Formaldehydhaltige Halbacetale mit reinem Formaldehyd gleichsetzen, sondern insbesondere auch da kein normaler Konsument denken würde „Mmmmh, Lecker – Das schmeckt aber ungenießbar“ und dann hustend, würgend 3 ml Liquid auf diese Weise inhaliert.

Das moralisch höchst verwerfliche an diesem Brief an den Herausgeber ist, dass hier wieder einmal suggeriert wurde, dass die E-Zigarette schädlicher sei, als die Tabakzigarette und genau das von diversen Medien verbreitet wurde. Mit solchen Nachrichten könnten E-Zigarettenkonsumenten wieder zurück zur Tabakzigarette zurückgetrieben und interessierte Raucher davon abgehalten werden auf die wesentlich unschädlichere E-Zigarette zu wechseln.3

Der Beigeschmack beim lesen solcher Artikel, ist ekelerregender und gesundheitsschädlicher als bei einem „Dry Hit“.

Rursus

PS Viele neuere Tankverdampfer sind dafür ausgelegt, sie bei 7 bis zu 15 Watt zu benutzen (die Betriebsparameter – Volt/Watt – wird bei den guten Produkten angegeben). Einige wenige Verdampfer können laut Hersteller gar mit bis zu 30 Watt betrieben werden. Hier sorgt die Konstruktion dafür, dass der Liquidnachfluss nicht abreißt. Seltsamerweise wurde für diese Untersuchung ein veralteter Verdampfer aus 2012 benutzt, der nicht für diese Leistung konstruiert wurde und Betriebsparameter gewählt, die mWn kein E-Zigarettenkonsument dauerhaft anwenden würde.

PPS Als Wissenschaftler sollte man dieses Papier von K.E. Farsalinos gelesen haben. Eine zu hohe Leistungseinstellung kann man als Privatperson (und als Wissenschaftler) verhindern, wenn man z.B. eine solche Tabelle anwendet (relativ schnell und einfach im Internet zu finden) :

Bild: Zulässige Betriebsparameter (Watt) für Verdampfer.

Zulässige Betriebsparameter (Volt) für Verdampfer (Ohm).
Quelle: http://www.ecigadvanced.com

Diese Tabelle zeigt grob auf, mit welcher Betriebsspannung ein Verdampfer bestimmungsgemäß betrieben werden kann (grün) und welche Betriebspannung evtl. schädlich für den Konsumenten und den Verdampfer sind (rot).


  1. Geier J. et al.: Formaldehydabspalter, Dermatologie in Beruf und Umwelt, Jahrgang 56, Nr. 1/2008, S. 34–36 

  2. K. E. Farsalinos et al.: Evaluation of Electronic Cigarette Use (Vaping) Topography and Estimation of Liquid Consumption: Implications for Research Protocol Standards Definition and for Public Health Authorities’ Regulation, International Journal of Environmental Research and Public Health, 2013, 10(6), 2500-2514 

  3. Peter Hajek: Electronic cigarettes have a potential for huge public health benefit. BMC Medicine, 2014;12:225 

Comments

  1. Wieder einmal;
    Brilliant veranschaulicht und hinter die nebulösen Kulissen gelukt!
    Danke „Rursus“

  2. Auf den Punkt gebracht! Großartig!
    (Nur mach doch bitte aus der „Heizwedel“ eine HeizweNdel, sonst muss ich immer an heizende Hunde denken 🙂 )

    • Du hast natürlich völlig Recht: Da wedelt nichts! (Korrigiert)
      Danke für den Hinweis!

  3. Danke für deine klare und sehr verständliche Erklärung wenn nur alle so gut recherchieren würden.

  4. gut gemacht! Vielen Dank!

  5. Herzlichen Dank für die ganze Arbeit! Gibt’s eigentlich irgendwo einen Preis für den besten Blog? 🙂

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